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Karl-Heinz Ströhle – From Tokyo

Vernissagetext - Dr. Thomas Miessgang

´Shades of Grey` ist die erste Begrifflichkeit, die sich aufdrängt, wenn man die Arbeiten der Serie „From Tokyo“ betrachtet: Graduelle Abstufungen der Nichtfarbe Grau bis hin zu feinsten Nuancierungen. Eine bewusste Reduktion der koloristischen Vielfalt, die im Minimalismus der eingesetzten Mittel eine umso größere Sensibilisierung für die Feinkalibrierung von Farbe, Textur und Formensprache schafft. Man sieht kurvige Linienformen, die sich zu abstrakten Ornamenten formen, aber auch, und das ist für Karl-Heinz Ströhle eher untypisch, Figurationen, die an Hochhäuser in der Ferne erinnern oder an ineinander verschlungene Highways.  „Ich wollte den Eindruck visuell fixieren“, sagt der Künstler, „den man hat, wenn man nachts um vier im Taxi an einem Hochaus oder an einem architektonischen Gerippe vorbeifährt. Dieses Gefühl des Somnambulen, halb wach und halb noch in Träume verstrickt.“
„From Tokyo“ - das ist eine durch den westlichen Blick gefilterte Appropriation des japanische  Ukiyo-e- Genres, dessen wörtliche Übersetzung - „Bilder der fließenden Welt“ - besonders gut zur Intention und gestalterischen Eigenart der Serie von Karl-Heinz Ströhle paßt.  Unter Ukiyo-e versteht man Farbholzschnitte und bestimmte Techniken der Malerei und der Druckgraphik, die das Lebensgefühl und die Weltsicht des neu sich konfigurierenden Bürgertums der Edo-Zeit spiegelten. Der Wortbestandteil Ukiyo meinte ursprünglich die „irdische, vergängliche Welt“ und hatte im Buddhismus eine ähnliche Bedeutung wie im Christentum die barocke „vanitas.“ Im 17. Jahrhundert allerdings erlebte das Wort in Japan einen Bedeutungswandel und meinte in einer Epoche merkantiler Entfaltung und wachsender Prosperität  „lebe und genieße jetzt.“  Übersetzt in die abendländische Terminologie also soviel wie „carpe diem!“. Fritz Schwan schreibt dazu in seinem „Handbuch Japanischer Holzschnitt“: „Von nun an war damit die Welt des Vergnügens und der Sinnesfreude gemeint, die Welt der Theater und der Freudenviertel, die Welt der Feste und des ausschweifenden Luxus.“
 Die Instabilität und Wandelbarkeit des Begriffes Ukiyo, die dialektische Spannung, die dem Wort innewohnt und die Vorstellung von einem Tanz auf dem Vulkan vertragen sich gut mit der inneren Gespanntheit der Materialien, die Karl-Heinz Ströhle gerne in seinen zwischen Zweidimensionalität und Dreidimensionalität pendelnden Arbeiten zum Einsatz bringt. Federstahl/ Stahlfedern, Gummibänder, Keilriemen und vieles mehr lassen sich in eine bestimmte Form zwingen, aus der sie aber aufgrund ihrer ureigenen Materialbeschaffenheit hinauszuschnellen drohen. Die Form ist immer eine vorläufige, die erst post festum vom Künstler per interventionistischem Zugriff zu einer dauerhaften gemacht wird. Karl-Heinz Ströhle erzeugt diese spezielle Serie von Arbeiten, indem er die Geometrien, die durch die Anordnung der Stahlbänder/ Keilriemen entstehen, auf einen darübergelegten feuchten Molino-stoff durchpaust und aus den durch diese Frottagetechnik erzeugten Formen mit Druckfarbe Monoprints herstellt.
„Das Material selber tendiert, zumindest temporär, zur Transformation, um seine materielle Qualität auszuspielen.“ hat Bazon Brock über Karl-Heinz Ströhles Materialwahl und Gestaltungspraxis geschrieben. „Wir möchten aber solche permanenten Transformationen in actu als Aformationen kennzeichnen, weil es sich um eine fortwährende Bewegung zwischen Entformung und Reformierung handelt.“
Entformung und Reformierung – das ist im Zeitalter von Remix und Reloading eine durchaus gebräuchliche künstlerische Strategie, die ästhetische Hervorbringungen als unendliche Sekwenz von vorläufigen Formulierungen versteht, ohne die variativen Möglichkeiten durch eine endgültige Festlegung einzuschränken. Bei der Serie „From Tokyo“ geht es aber noch um basalere existentielle Kategorien. Karl-Heinz Ströhle, der längere Zeit in Tokio gelebt hat, wollte mit seiner Serie von Prints,  die wie Zeichnungen aussehen das visuelle Protokoll einer Lebensrealität liefern, die sich im Schatten einer möglichen Katastrophe ausfaltet. Denn Tokio, geographisch in einer tektonischen Hochrisikozone situiert, wo immer mit Erdbeben gerechnet werden muss und auch gegen Tsunamis und Gefahren, die mit der Kernschmelze im nur 200 Kilometer entfernten Fukushima einhergehen, nicht gefeit, ist ein Ort, der seinen Bewohnern ein Gefühl jenseits der ´ontologischen Sicherheit` oktroyiert, wie sie von Anthony Giddens definiert wurde. Der britische Soziologe und Philosoph versteht darunter „das Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenden sozialen und materiellen Handlungswelt."
Tokio dagegen ist in globalem Maßstab eher dem existentiellen Paradigma der Diskontinuität zuzurechnen, in dem durch unerwartete Katastropheneinbrüche Lebensperspektiven vernichtet werden und Utopien zu Dystopien verkümmern. All dies spielt als epistemologische Hintergrundstrahlung in der Serie „From Tokyo“ eine Rolle, ohne jedoch die Ästhetik von Karl-Heinz Ströhle so zu überlagern, dass die Kunst der Formspannungen und der Aformationen mit der nietzscheanischen Perspektive einer „Wiederkehr des Immergleichen“ per se ausgehebelt würde. Karl-Heinz Ströhle hat seiner künstlerischen Sprache einfach eine neue dialektale Färbung hinzugefügt, einen Sound, der auch davon spricht, dass wir fremd eingezogen sind und fremd wieder ausziehen werden. So weitet sich das Metaphernfeld, das den Lebens- und Handlungsraum Tokio umgibt ins Allgemeinmenschliche und der japanische Farbholzschnitt wird zu einem Referenzrahmen, in dem Karl-Heinz Ströhle mit seiner spezifischen Druck- und Frottagetechnik zarte, individuelle Einschreibungen von, wie es in einem Text heißt, „seltsam natürlicher Anmut“ tätigt.
„Ancient to the Future“ ist ein Slogan der Chicagoer Musikerkooperative AACM. Man könnte ihn auch für Karl-Heinz Ströhle Japanoiserien verwenden: Aus der Tiefe der Geschichte heraus in eine prekäre  Gegenwart und in eine Zukunft, deren ontologische Konturen wir nur erahnen können. 
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Hoch lebe die Kunst.
© Thomas Mießgang 

 

 
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